Dietmar Zöller

Rezension "Jenseits der Lebensmitte"

 

 Christina Kockerd

 

Von Wegen aus dem Chaos

 

Jenseits der Lebensmitte - Ein Autist erlebt und reflektiert das Älterwerden lautet der Titel des neuen Buches von Dietmar Zöller, in dem er in gesammelten Texten und Bildern sehr persönliche Einblicke in seine Wahrnehmung und Wünsche gibt. Ein Leseeindruck.

„Als ich schreiben konnte, habe ich den Satz geprägt: „Am Anfang war das Chaos.““(S. 111) Gestützte Kommunikation, oder vielmehr Gestütztes Schreiben, wie er selbst es nennt, spielt in Dietmar Zöllers Leben eine zentrale Rolle. Nicht nur als Ventil der Äußerung, sondern auch, um Erinnerungen und damit ein Ordnen für seine Wahrnehmung zu ermöglichen. In dieser Art, die Welt zu entschlüsseln, scheint eine für einen „neurotypischen“ Leser kaum vorstellbare Bürde zu liegen. Umso eindrücklicher prägen sich deswegen die Bilder ein, die Zöller durch seine Formulierungen, die Beschreibung seines „Wahrnehmungsbreis“ hervorruft: Zöllers Text kann nicht neutral gelesen oder gar bewertet werden. Er entfaltet seine Wucht darin, dass wir ihn auf uns selbst und unser Leben beziehen.

Besonders die Rolle seiner Mutter für seinen Fortschritt stellt Zöller dabei in den Vordergrund. Sie habe ihm, noch ohne über seine Wahrnehmungsverarbeitung genau Bescheid zu wissen, geholfen, sich besser zurechtzufinden - auch gegen alle Widerstände: „Die üble Nachrede, was meine Mutter betraf, machte mir zu schaffen. Meine Mutter war nämlich meine beste Lehrerin“ (S.67). Durch sie habe er auch die Möglichkeit erlangt, sein intellektuelles Potential auszuschöpfen, an das die Schule nicht geglaubt habe.

Gleichzeitig beschäftigt Zöller vor allem das Thema Freundschaft, das für Menschen mit Autismusspektrum-Störung oft fast unüberwindbare Hürden mit sich bringe. Er selbst kommuniziert bereits von Kindesbeinen an über Briefe. Das ermöglicht ihm Freundschaften, wie zum Beispiel zu einem früheren Lehrer, der sich auf die Seite seiner Mutter stellte, und zu Friedemann Nemitz, dessen Sohn Toni ebenfalls autistisch ist und dem er sein Buch widmet. So räumt Zöller mit einigen Klischees über Menschen mit Autismusspektrum-Störung auf. Trotzdem bleibt ein Grundproblem, das Zöller folgendermaßen formuliert: „Ich bin auf Hilfe angewiesen, kann ohne Hilfe bzw. Begleitung niemanden kennenlernen. Ich wirke fremd auf Menschen. Niemand traut sich an mich heran. So bleibe ich einsam und wünsche mir doch so sehr Beziehungen.“ (S. 103)

 

DenWunsch, dazuzugehören und dabei zu sein, äußert Zöller auch an anderer Stelle im Bezug auf seine Kirchengemeinde, an deren Ritualen er nicht in gleicher Weise teilnehmen kann wie die anderen Gemeindemitglieder.

Zöllers Buch kann als Text über die Einsamkeit von Menschen mit ASS und gleichzeitig über die Wege und Möglichkeiten, diese Einsamkeit zu verlassen, gelesen werden. Er ist auch ein Loblied auf das Leben, in dem es Hindernisse und Ängste zu überwinden gibt, und das aber trotzdem von Hoffnung und Möglichkeiten erfüllt ist: „Ich möchte behaupten, dass ich trotz der Autismus-Diagnose ein guter Freund sein kann.“ (S.140). In Zöllers Mut, seine Erfahrungen und Sichtweisen zu teilen, liegt die Hoffnung auf ein positives und gelingendes Leben trotz vieler Hürden.

Natürlich werden dabei keineswegs alle lebenspraktischen Fragen beantwortet, die sich stellen, obwohl Zöller am Ende seines Buches konkrete Tipps dafür gibt, wie ein Autist auf das Älterwerden vorbereitet werden sollte. Was soll mit unseren Kindern, Geschwistern und Schülern mit ASS geschehen, wenn sich die Eltern oder anderen Familienmitglieder nicht mehr auf die gleiche Weise kümmern können wie im Moment? Eine Angelegenheit, die sicherlich jeden umtreibt, der einem Menschen mit ASS nahe steht. Aber dennoch liegt in Zöllers Umgang mit sich selbst etwas ungemein Tröstliches und Bewundernswertes, das die Lektüre seines Textes wahnsinnig lesenswert für alle macht, die sich der Angst vor dem Älterwerden stellen wollen.

 

Christina Kockerd schreibt seit September 2017 den Newsletter für  autismus Stuttgart e.V. Sie hat einen Bruder, der von ASS betroffen ist, und lernte deswegen den Verein kennen. Derzeit studiert sie Theaterwissenschaft und Komparatistik in München.

 

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